Die Natur                                   im Fokus der Fotografie

 

Láhol - der Vogel, der dem Menschen vertraut

 

Wenn du einmal ins Hochgebirge kommst und als Führer einen Lappen hast, der deine Sprache gut versteht, so frage ihn, ob er Láhol kennt. Sieh, wie seine Augen bei diesem Namen aufleuchten! Sieh, wie der Gleichmut in seinem wetterharten Gesicht einem Schmunzeln weicht und der lebhaften Verwunderung, wer du wohl sein magst, der du etwas von Láhol weißt?

Mit diesen Worten bereitet der bekannte schwedische Naturforscher und Naturfotograf BENGT BERG (* 9. Januar 1885 in Kalmar; † 31. Juli 1967 in Eriksberg) den Leser seines Buches „Mein Freund der Regenpfeifer“ auf seine fast schon unglaublichen Erlebnisse mit einem kleinen Vogel im skandinavischen Gebirge (Fjäll) vor. In seinem Buch führt BERG den Leser seiner Erzählung zurück in das Jahr 1917 und beschreibt, wie sich ein Finne, ein Same und er auf die Suche nach einem ganz bestimmten Vogel begeben. Mitten in der schwedischen Natur hoch oben in der öden Landschaft Lapplands entstand schließlich eine bewegende Geschichte, die das Verhältnis eines Menschen zu einem wilden Vogel wiedergibt. BERG beschreibt in seinem Buch eine kurzzeitige Menschenfreundschaft mit einem kleinen Regenpfeifer im hohen Norden Europas, die nicht nur seine Zuneigung zur Natur wiederspiegelt, sondern auch sein Verständnis für die Umwelt, in der er sich zu seiner Zeit bewegte. Mit seinem Buch richtet BERG aber auch eine unmissverständliche Botschaft an alle Menschen, nämlich dass ein sorgsamer Umgang mit der Natur und ihren Lebewesen auch Vertrauen schaffen kann.

 


Zur Person Bengt Berg

BENGT MAGNUS KRISTOPFFER BERG, wie sein vollständiger Name lautet, war bereits als Junge viel in der Natur unterwegs. Obwohl er aufgrund seiner mangelhaften Leistungen von der Schule verwiesen wurde, gelang es ihm später im naturwissenschaftlichen Bereich Fuß zu fassen. Der bekannte deutsche Zoologe ALEXANDER KOENIG, der den Bau eines großen Naturkundemuseums in Bonn plante, wurde zu seiner Zeit auf BERG aufmerksam. In einen Brief an KOENIG aus dem Jahr 1909 schilderte BERG ihm seine Ideen zum Aufbau des Museums und so war BERG schließlich bis 1913 im Museum KOENIG damit beschäftigt Dioramen zu erstellen. Die ersten Ausstellungsvitrinen wurden 1911 fertiggestellt und anschließend über viele Jahre in dem Bonner Museum gezeigt. Zur damaligen Zeit war die Darstellung präparierter Tiere inmitten einer Naturlandschaft neu und seine Idee verschaffte BERG naturwissenschaftlichen Kreisen einen hohen Bekanntheitsgrad in naturwissenschaftlichen Kreisen.

Bereits 1912 widmete sich BERG aber zunehmend der Naturdokumentation in Büchern und brachte darin auch seine eigenen Fotoarbeiten unter. Er wurde einer der ersten professionellen Vogelfotografen überhaupt und seine fotografischen Arbeiten haben maßgeblich dazu beigetragen, dass die damaligen Ornithologen ihren Fokus von den Studien an den Sammlungsstücken in naturhistorischen Museen neu auf die lebenden Vögel draußen in der Natur ausrichteten – dies war wohl der erste Schritt zur heutigen Feldornithologie. BERGs erstes mit eigenen Fotografien bebildertes Naturbuch kam 1912 unter dem Titel „Måseskär“ (Möwenschären) heraus; darin beschreibt er das Vogelleben auf der kleinen Insel Kåreholmen östlich von Öland.

Zunehmend setzte sich BERG mit der neuartigen Kameratechnik auseinander, die erst in den Jahren zuvor „mobil“ geworden ist. Zur damaligen Zeit entstanden Kameraaufnahmen in der freien Natur noch unter schwierigsten Umständen. So nahm BERG beispielsweise aber auch bauliche Veränderungen an seiner Kamera vor, die es ihm ermöglichten „schnellere“ Bilder zu fertigen, auch von fliegenden Vögeln, was damals eine kleine Sensation darstellte. Als Folge zahlreicher Reisen nach Afrika und später auch Asien vervollständigte er seine spektakuläre Fotosammlung zusehends. 1925 bereits erschien sein erster Naturfilm (Abu Markub). Neben seinem Bekanntheitsgrad als Buchautor folgten nun auch seine Auftritte als Naturfilmer in den Luxustheatern europäischer Großstädte.

Die Beziehung zu HERMANN GÖRING, dessen Passion zur Jagd er teilte, nutzte BERG für seine weitere Karriere. Dadurch erhielt er eine Anstellung als Redakteur bei der schwedischen Tageszeitung „Dagsposten“ und seine Filmproduktionen wurden zuerst in Deutschlands ausverkauften Theatersälen gezeigt.

Nach dem Ende Nazideutschlands verlor BERG spürbar an Einfluss und zog sich zunehmend aus der Öffentlichkeit zurück. Er widmete sich danach fast ausschließlich seinem südschwedischen Landsitz Gut Eriksberg in der Nähe der Ortschaft Åryd, den er in einen heute noch beliebten Wild- und Naturpark verwandelte. Kurz vor seinem Tod vernichtete BERG noch alle Negative seiner zahlreichen Naturfotografien, damit sie nicht in fremde Hände fallen konnten. Auch wenn BERGs egoistisches Denken während der Nazizeit einen großen Schatten auf sein Lebenswerk wirft, sorgten seine zahlreichen Veröffentlichungen für ein gesteigertes Naturverständnis unter der europäischen Bevölkerung. BERGs Einsatz für die Natur bewirkte unter anderem auch, dass man in Schweden heute noch Seeadler beobachten kann.

Seinen Grabstein auf dem Skatelöv-Friedhof am Åsnen-See ziert eine stilisierte Darstellung eines aus der Hand fressenden Mornellregenpfeifers. So begleitet der Mornellregenpfeifer beziehungsweise Láhol, wie die Sami diesen Vogel nennen, BERG sogar über seinen Tod hinaus.


Mein Freund der Regenpfeifer…
ist nicht die korrekte deutsche Übersetzung für eine von BERGs wohl bekanntesten Buchveröffentlichungen. Gemäß dem schwedischen Buchtitel „Min vän fjällpiparen“ hätte der Titel eigentlich „Mein Freund der Mornellregenpfeifer“ heißen müssen. Aber was macht diesen Mornellregenpfeifer überhaupt so interessant, dass sich vor über einhundert Jahren ein Naturforscher dazu hinreißen ließ diesem Vogel ein ganzes Buch zu widmen?

Männlicher Mornellregenpfeifer. Foto: Jörg Asmus

Der wissenschaftliche Name vom Mornellregenpfeifer lautet Eudromias morinellus und systematisch wird diese Spezies gegenwärtig den Eigentlichen Regenpfeifern (Charadriinae) zugeordnet. Mit den anderen Angehörigen seiner Familie hat er tatsächlich auch vieles gemeinsam; sein Körperbau lässt schnell erkennen, dass es sich um einen Regenpfeifer handeln könnte. Er misst 20 - 22 cm. Das Männchen ist zwischen 86 und 116 g schwer und die Weibchen sind etwas schwerer (99-142 g), was bei den Regenpfeifern nicht ungewöhnlich ist. Etwas Besonderes innerhalb der Familie Charadriinae ist der Mornellregenpfeifer aber doch, betrachtet man allein das Brutkleid dieser flinken Vögel scheint der Mornellregenpfeifer mit seinem Prachtkleid außergewöhnlich bunt zu sein, er wirkt fast schon exotisch. Ein markantes Merkmal dieser Spezies ist der weiße, bis in den Nacken verlaufende Überaugenstreif. Auf Fotos wirkt dieser Vogel mit seiner leuchtenden rostroten Bauchfärbung ohne Zweifel als Eyecatcher, in dem Ausschnitt seines auf einem Bild nur begrenzt dargestellten Lebensraums. Bewegt man sich jedoch in den Weiten Lapplands, muss man sehr genau nach diesem Vogel Ausschau halten, denn dort verschmilzt seine Gefiederfärbung förmlich mit der Landschaft. Ein brütender Mornellregenpfeifer ist durch seine unauffällig braune Rücken- und Flügelfärbung, bei der einzelne Federpartien heller eingefasst sind, bestens getarnt. Beutegreifern ist es darum kaum möglich einen am Boden brütenden Mornellregenpfeifer aus der Luft zu entdecken.

Brütende Mornellregenpfeifer sind in der Weite Lapplands schwer zu entdecken. Foto: Jörg Asmus

Bei dem hier beschriebenen Vogel handelt es sich um einen Brutvogel der Tundren Eurasiens am und nördlich des Polarkreises, der auch an der Nordspitze Alaskas angetroffen werden kann. Kleinere Reliktvorkommen existieren in Südwest- und Südeuropa sowie in den Alpen. Hier schreiten die Mornellregenpfeifer gelegentlich zur Brut, wenn auch nur in geringen Stückzahlen. Eher zieht es die Art zur Fortpflanzung in weiter nördlich gelegene Gebiete, wo sich der Mornellregenpfeifer in den meist trockenen, überschaubaren Gebieten der Flechtentundra niederlassen. Spärliche, niedrige Vegetationsformen oder auch gelegentlich vegetationslose und steindurchsetzte Habitate sind das ideale Brutareal für diese Vögel. Dort bemerken sie ihre Feinde bereits aus größerer Entfernung. Fehlen diese Geländestrukturen in den nordischen Gebieten unserer Erde, fehlt dort in der Regel auch der Mornellregenpfeifer; dies erklärt vielleicht auch schon die sehr aufgesplittete Verbreitung dieser Spezies.

Auch das Gelege ist gut getarnt. Foto: Jörg Asmus

In ihren jeweiligen Brutgebieten treffen die Regenpfeifer bereits gegen Ende April ein. Oft widmen sich die Vögel gleich nach ihrer Ankunft einer kurzen Gruppenbalz. Hier wird dann auch eine Rollenumkehr erkennbar, die bei anderen Regenpfeifern nicht vorhanden ist. Das Weibchen übernimmt bei der Paarfindung stets die aktivere Rolle und versucht durch Scheinfluchten beziehungsweise Scheinbrüten die Aufmerksamkeit des Männchens zu erlangen. Bleibt ihre Bemühung ohne Beachtung des Männchens begibt sich das Weibchen zu der Balzgruppe zurück und versucht mit dem gleichen Verhalten ein anderes Männchen von einer kurzzeitigen Paarbindungen zu überzeugen. In dieser Phase kann es zwischen einzelnen Weibchen sogar zu Auseinandersetzungen um ein Männchen kommen. Haben sich die Paare schließlich gefunden, sondern sich diese von der Gruppe ab und besetzen ihr Brutrevier, dass dann von beiden Paarpartnern verteidigt wird.

Als Neststandort wird ein erhöhter Platz ausgewählt, um das spätere Gelege bei starken Regenfällen trocken zu halten und während der Brutdauer den Überblick zu behalten. Nestbau wird nicht betrieben; die Eier werden häufig nur in eine flache Mulde gelegt. Hin und wieder zupft das Männchen ein paar Pflanzenteile während des Brütens aus der unmittelbaren Umgebung ab und lässt diese direkt neben seinem Körper fallen. Diese dienen dann als Polster für das Gelege. Zumeist besteht ein Mornellregenpfeifer-Gelege aus 3 Eiern. Für das Brutgeschäft zeigt sich vornehmlich das Männchen verantwortlich. Das Weibchen hält sich aber häufig in der Nähe des Nestes auf und steht im Stimmkontakt mit dem Männchen. Des Weiteren beteiligt es sich auch an der Abwehr von Feinden, bei der häufig das sogenannte Verleiten Anwendung findet, indem brütende Vögel dem Feind Verletzungen vortäuschen, um sie aus der Nähe des Nestes wegzulocken. Einige Mornellregenpfeifer-Weibchen beteiligen sich aber auch an dem Brutgeschäft, vornehmlich zu Beginn und gegen Ende der 28tägigen Inkubationszeit.  

Ein erst wenige Stunden altes Mornellregenpfeifer-Küken. Foto: Jörg Asmus

Sobald die Küken geschlüpft sind, werden sie vom Männchen vom Nest weggeführt. Auch in den ersten Tagen hält sich das Weibchen noch in der Nähe auf, dann wird es aber von dem führenden Männchen vertrieben, das ab diesem Zeitpunkt alle mit der Aufzucht verbundenen Aufgaben allein übernimmt. Aber es gibt auch hier Ausnahmen! So wurde beobachtet, dass Küken führende Männchen andere Männchen in ihrer Nähe dulden, sofern diese nicht selbst Nachwuchs zu versorgen haben. Die Junggesellen beteiligen sich dann sogar an der Abwehr von Feinden. Nicht immer hält die Paarbindung von Männchen und Weibchen über die ganze Brutzeit, denn bei einigen Mornellregenpfeifern wurde des Öfteren eine Art Sukzessiver Polyandrie beobachtet. Weibchen versorgen in einem solchen Fall nach der Ablage des ersten Geleges noch weitere Männchen mit Vollgelegen.

Etwa 30 Tage werden die Küken nach ihrem Schlupf von dem Männchen geführt. Danach begeben auch sie sich in ihre Überwinterungsgebiete in das nördliche Afrika sowie in den Nahen Osten, die von den Weibchen bereits Ende Juli aufgesucht werden.


Ein besonderer Vogel in allen Belangen
Der Mornellregenpfeifer gilt als Charaktervogel Lapplands, der sich seinen Lebensraum mit Rentieren teilt, aber auch mit Schneehühnern (Lagopus), Schneeammern (Plectrophenax nivalis) und Schneehasen (Lepus timidus). In einer solchen Gesellschaft droht dem kleinen Regenpfeifer wohl kaum Gefahr, es sei denn ein Rentier tritt einmal versehentlich auf ein Gelege oder einen Jungvogel. Polarfüchse (Vulpes lagopus) und Vielfraße (Gulo gula) haben es hingegen auf die Vogelgelege abgesehen, oder auf den noch nicht flugfähigen Nachwuchs der Gefiederten. Um diese Tiere von dem Nest oder die Küken wegzulocken, stellen sich die Altvögel krank. Sie täuschen Verletzungen vor und erwecken bei Fuchs oder Vielfraß den Eindruck eine leichte Beute zu sein. Der Regenpfeifer fächert dabei den Schwanz und hebt die Flügel, um mehr Aufmerksamkeit zu erzielen. Die Räuber folgen ihm schon bald und der Mornellregenpfeifer muss anschließend lediglich darauf achten, dass der Abstand zwischen ihm und seinen Feinden nicht zu knapp wird. Ist der Polarfuchs oder Vielfraß weit genug vom Nest weggelockt worden, fliegt der Mornellregenpfeifer davon. Verwirrt schauen seine Verfolger hinter den auffliegenden Vogel her, der aber nicht sofort das Gelege oder die Küken ansteuert. Der Mornellregenpfeifer wartet ab, in welche Richtung es seine Feinde anschließend verschlägt; erst wenn diese in sicherer Entfernung sind setzt er sich wieder auf sein Gelege, das dann wieder sicher vor den Blicken seiner Feinde ist.

"Verleitender" Mornellregenpfeifer. Foto: Jörg Asmus

So verhält sich der Mornellregenpfeifer allerdings nicht, wenn ein Mensch sich in die Nähe seines Nestes oder seiner Küken begibt. Die Sami nennen den Mornellregenpfeifer darum auch „Láhol – der Vogel, der den Menschen vertraut“. Erzählen sie von ihren Begegnungen mit diesem kleinen Vogel in der Weite Lapplands, dann wird die Anwesenheit von Láhol von ihnen als Freude und Gesellschaft für den Mann bezeichnet, der viele Wochen den Rentieren dort oben folgt. Aber, ein Vogel, der den Menschen vertrauen soll? Wie äußert sich dieses Vertrauen und hat eine solche Aussage überhaupt noch Bestand im Europa der heutigen Zeit?

BENGT BERG beschreibt in seinem Buch das Verhalten eines brütenden Mornellregenpfeifers; ein Verhalten, dass die Sami bei ihren Begegnungen mit dem Vogel immer wieder erleben durften, in all den Jahren vorher, in denen sie sich an ihrem Láhol erfreuten. Ist es tatsächlich ein Zeichen des Vertrauens, wenn sich der Mensch bis auf wenige Meter dem Nest eines Mornellregenpfeifers nähern darf, ohne dass dieser Notiz von ihm zu nehmen scheint, und der kleine Vogel bei der Anwesenheit des Menschen mitunter sogar gelangweilt seine Augen schließt? Kann man es als Vertrauen bezeichnen, wenn der Regenpfeifer sich vor dem nur wenige Meter entfernten Menschen wieder auf sein Gelege setzt? Wohl ja, denn hätte der Mensch die Gestalt eines Polarfuchses oder Vielfraßes, würde der Mornellregenpfeifer diese Gelassenheit ihm gegenüber in einer solchen Situation auf gar keinen Fall zeigen! Manche Menschen nennen ein derartiges Verhalten wohl auch Prädatorendummheit. Und so ist es auch nicht ungewöhnlich, wenn manche Mornellregenpfeifer beim Anblick des Menschen nicht weglaufen, sondern sich dem Beobachter scheinbar neugierig bis auf wenige Meter nähern.

Das Artepitheton morinellus bezieht sich übrigens auch auf dieses Verhalten und bedeutet frei übersetzt „kleiner Narr“. Eine frühere deutsche Bezeichnung für den Mornellregenpfeifer lautet „dummer Regenpfeifer“, ähnlich auch die englische Bezeichnung „Dotterel“. Für mich persönlich ist eine Kausalität von Vertrauen und Dummheit bei diesem Vogel keinesfalls erkennbar, nur weil ein Wildtier im Laufe seiner Entwicklungsgeschichte keine Scheu gegenüber dem Menschen entwickelt hat. Darum machen mich derartige Aussagen auch immer ein wenig traurig.


Die Saga vom Vogel in der Hand
Auch dieser Satz findet häufig Erwähnung, wenn Kenner über den Mornellregenpfeifer berichten - aber wie ist er in Verbindung mit diesem Vogel zu bringen? BENGT BERG seine Erlebnisse mit Láhol im schwedischen Gebirge enden natürlich nicht damit, dass er einen Mornellregenpfeifer dabei beobachtete, wie dieser sich nur einige Meter von ihm entfernt wieder auf sein Gelege setzt und es anschließend in scheinbarer Ruhe weiter bebrütet. In seinem Buch wird der Leser bald schon auf das wohl Unglaublichste der gesamten Geschichte aufmerksam gemacht. BERG setzte sich nach einigen Tagen neben das Nest des Mornellregenpfeifers, der dies im Verlauf seiner Anwesenheit des Öfteren verließ. Der Vogel kam „furchtlos“ zurück, sah ihn forschend an und zögerte nicht, „sich sogleich zum Brüten niederzulassen“. BERG hatte etwas mit dem brütenden Mornellregenpfeifer vor. Er hatte einmal gehört, „dass ein Mann es fertiggerbacht hatte, einen wildlebenden Vogel dahin zu bringen, in seiner Hand zu brüten“, dieser Gedanke hatte BERG seitdem wie ein Schatten verfolgt.

Die Weibchen brüten kaum. Foto: Jörg Asmus

Zunächst gelang es BERG den Mornellregenpfeifer vorsichtig zu streicheln, was dieser sich durchaus gefallen ließ. Später knabberte der Vogel sogar an seiner linken Hand, während BERG vorsichtig einige Finger derselben unter die Brust des Vogels schob, und der Mornellregenpfeifer nahm auch bald angebotene Käferlarven und Regenwürmer aus der Hand. So entstanden auch Fotos von dem Regenpfeifer, wie dieser die Mücken in ganzer Vertrautheit von der Hand des Sami pickte. Es ist beeindruckend wie packend BERG all diese Begebenheiten beschreibt und die Geschichte zudem noch mit seinen Fotos bebildert. Zum Ende seines Buches gelingt dann auch sein letzter Versuch. Er nahm die 3 Eier in seine Hand und Láhol setzte sich zur Brut darauf.

Die beiden bekannten Tierfilmer ERNST ARENDT und HANS SCHWEIGER begaben sich vor einigen Jahren ebenfalls in das skandinavische Gebirge. Ihnen gelang es die von BERG beschriebenen Erlebnisse in groben Zügen zu wiederholen und in beeindruckender Weise im Film festzuhalten. 2006 war dieses Filmprojekt „Die Saga vom Vogel in Hand“ beendet und ist seitdem wiederholt im deutschen Fernsehen ausgestrahlt worden; das Video ist übrigens im Handel erhältlich. Auch ARENDT und SCHWEIGER begleiten einen Mornellregenpfeifer während der Brutzeit. Sie gewinnen ebenfalls innerhalb kürzester Zeit das Vertrauen des brütenden Männchens, bringen ihm einige Regenwürmer aus dem Tal mit, die sie dem kleinen Vogel mit der Hand übergeben und liegen anschließend an mehreren Tagen nur wenige Zentimeter entfernt vom Nest, ohne dass dies dem Männchen zu stören scheint. Die beiden Tierfilmer entschieden sich zum Schluss ebenfalls zu dem bereits beschriebenen Versuch. ERNST ARENDT nahm behutsam die 3 Eier in seine beiden Hände und wartete auf die Reaktion des schon bald wieder eintreffenden Männchens. Es dauerte nur einige Minuten und der Mornellregenpfeifer saß wieder auf seinem Gelege, nur dass sich dies nun in den Händen des Tierfilmers befand. Ein unglaubliches Verhalten, wie ich beim Anschauen dieses Filmbeitrags empfand. Obwohl ich das Buch von BENGT BERG bereits kannte, versetzte mich doch insbesondere diese Filmszene in die Sprachlosigkeit und ich erinnerte mich in diesem Moment gern an die unbeschreiblichen Augenblicke, die ich selbst schon mit dieser Vogelart in den Weiten Lapplands erlebte.


Unsere ersten eigenen Erlebnisse
Der Mornellregenpfeifer ist für vogelbegeisterte Menschen und vor allem für Vogelfotografen etwas ganz Besonderes. Für manch einen ist es „der“ Vogel schlechthin, beruhend auf sein besonderes Vertrauen, dass er dem Menschen immer wieder entgegenbringt.

Im Juni 2016 begaben meine Lebensgefährtin und ich uns zum ersten Mal auf die Suche nach diesem Regenpfeifer ins schwedische Fjäll. Nach Hinweisen einiger Ornithologen wussten wir, dass sich kurz vor unserem Aufenthalt immer wieder ein Mornellregenpfeifer-Paar in einem für die Art typischen Brutgebiet aufhielt; ein Gelege wurde bis dahin jedoch nicht entdeckt. Ab dem 18. Juni 2016 begaben wir uns dann endlich in Schwedisch-Lappland auf die Suche nach dem Mornellregenpfeifer. In all den Tagen gelang es uns jedoch nicht einen dieser beiden Vögel zu entdecken. Wahrscheinlich sind wir das eine oder andere Mal direkt an dem brütenden Vogel vorbeigelaufen und haben ihn aufgrund seiner guten Tarnung nur nicht entdeckt. Wir riefen uns immer auch die Aussage der Sami ins Gedächtnis „Láhols Nest, dass kannst Du nicht suchen – das liegt, so Gott will, eines Tages auf des Wanderers Weg.“  

Der 01. Juli war unser letzter Urlaubstag im Jahr 2016. Wir begaben uns noch einmal in das Gebiet. Nach einiger Zeit der Suche entdeckten wir einen weiblichen Mornellregenpfeifer auf einem Stein sitzend. Endlich! Das Weibchen schien uns aufmerksam zu beobachten und machte zudem durch leise Rufe auf sich aufmerksam. Sehr wahrscheinlich handelte es sich dabei um die Kontaktrufe, die dem in der Nähe befindlichen Männchen galten. Wir bewegten uns vorsichtig in Richtung des Mornellregenpfeifers. Plötzlich, wie aus dem Nichts, bemerkten wir nur ein paar Schritte vor uns das Männchen, das die Flügel hob, den Schwanz fächerte und uns mit hinkenden und schlingernden Bewegungen aufforderte ihm zu folgen. Für uns war dies ein eindeutiges Zeichen von nun an äußerst vorsichtig zu sein, um nicht versehentlich auf das gut getarnte Gelege oder die Jungvögel zu treten. Schon bald entdeckten wir die nur wenige Meter vor uns befindlichen 3 Küken. Wir blieben stehen. Das Weibchen hielt fortan immer einen Sicherheitsabstand von ungefähr 5 Metern. Das Männchen kümmerte sich bereits innerhalb kürzester Zeit nach unserem Erscheinen wieder um seinen Nachwuchs. Die Jungvögel, die wahrscheinlich erst einige Stunden alt waren, liefen um unsere Füße herum und das Männchen auch. Die Küken ließen sich sogar berühren, ohne dass das Männchen dadurch erkennbar beunruhigt wurde. Ein großartiges Erlebnis, das wir ab diesem Zeitpunkt nie wieder vergessen sollten und bei jeder sich bietenden Gelegenheit erzählten wir von unserer ersten Begegnung mit Láhol.   

Auch in den Jahren 2017 und 2018 suchten wir wieder nach den Mornellregenpfeifern. In diesen beiden Jahren fanden wir sie nicht. Von 2016 bis 2018 wurden wir jedoch auf ein Phänomen aufmerksam. Immer wenn uns Einheimische auf unsere Fotoausrüstung hin angesprochen haben und wir von ihnen ganz nebenbei die Frage gestellt bekamen, was wir denn eigentlich fotografieren möchten, erhielten wir nicht selten den Hinweis, dass in bestimmten Gebieten in den Jahren zuvor „sogar“ schon Mornellregenpfeifer gesehen wurden. Es ist schon verrückt, welche Wirkung diese Vögel bei einigen Menschen hinterlassen!


            Huderndes Männchen. Foto: Jörg Asmus

2019 – Euphorie des Glücks und der Freude

Es war der erste Tag unseres 14tägigen Aufenthalts in Mittelschweden, als wir Láhols Nest endlich in Südlappland fanden. Uns wurde bewusst, dass dieser Moment etwas mit Glück zu tun haben musste, denn eine gezielte Suche nach dem brütenden Männchen oder das Gelege erschien uns in diesem Augenblick mehr als zuvor als aussichtsloses Unterfangen. Zu gut sind der brütende Vogel oder das Gelege in seinem unmittelbaren Umfeld getarnt. Wir mussten in den folgenden Tagen immer wieder nach dem Mornellregenpfeifer suchen, obwohl uns der Brutplatz aufgrund einiger Geländemarkierungen und eines GPS-Markers bekannt sein sollte. Das regungslos brütende Männchen und auch die 3 Eier verschmolzen tatsächlich regelrecht mit ihrer Umgebung. Wir hatten von nun an also 14 Tage Zeit, dem folgenden Hinweis der Sami Beachtung zu schenken: „Wenn Du dem Vogel begegnest, dann zeig ihm behutsam, dass Du sein Land kennst, liebst und verstehst. Und dann vertraut er Dir alles an, was er besitzt: Seine Freiheit, sein Leben, seinen Nachwuchs!“


Es war unsere feste Absicht in den folgenden 2 Wochen Freundschaft mit einem kleinen Regenpfeifer zu schließen und dabei vor allem seine Interessen zu berücksichtigen, die ihn in den Norden Europas führten. Auf gar keinen Fall sollte unsere Anwesenheit dazu führen, dass der Mornellregenpfeifer durch uns über die Maße beunruhigt wird und schlimmstenfalls sein Gelege aufgibt.

 

Bald schon schloss das brütende Männchen bei unserer Anwesenheit seine Augen. Foto: Jörg Asmus

Das brütende Männchen zeigte von Beginn an wenig Scheu, aber wir wagten es am ersten Tag dennoch nicht uns dem Vogel dichter als 5 Meter zu nähern. Die Kontaktrufe des Weibchens nahmen wir an diesem Tag aus größerer Entfernung wahr. Das Männchen selbst ließ sich an diesem Tag durch uns nicht von seiner Aufgabe ablenken. In den Tagen darauf kamen wir dem brütenden Mornellregenpfeifer immer näher, allerdings immer nur über kurze Zeiträume, um den Vogel nicht zu beunruhigen. Die Entfernung zu dem brütenden Vogel betrug nach ein paar Tagen nur noch etwa 30 cm. Wir redeten ruhig auf den brütenden Mornellregenpfeifer ein, der währenddessen nicht selten seine Augen schloss. Wir genossen diese sagenhafte Vertrautheit. Natürlich verließ der Vogel auch zwischenzeitlich das Nest, um Nahrung aufzunehmen oder sich zu entleeren. Immer wenn er danach sein Gelege aufsuchte störte ihn unsere Anwesenheit nahe am Nest offensichtlich genauso wenig wie die Steine, die in unmittelbarer Nähe des Geleges lagen. Schon bald wagten wir auch den brütenden Vogel zu berühren; er blieb sitzen, ohne jeglicher Anzeichen der Aufregung. Uns wurde dabei immer mehr bewusst, dass wir einem „wilden“ Vogel gegenüberlagen, der eigentlich gute Gründe haben sollte, dem Menschen zu misstrauen, denn in den Jahrzehnten zuvor wurden seine Artgenossen jedes Frühjahr zu Hunderten während des Vogelzugs in Dänemark „von Menschen“ getötet und der Grund für die jüngsten  Bestandsrückgang in Europa könnten die starke Verfolgung in den Überwinterungsgebieten Nordafrikas sein, wo diese Vögel zu Nahrungszwecken gejagt werden. Der Mensch fungiert bislang aber eigenartigerweise „noch“ nicht als Feindbild dieses Regenpfeifers.

An mehreren Tagen suchten wir das Nest auf und am 28. Juni 2019 fuhren wir dann schon letztmalig zu dem brütenden Mornellregenpfeifer, denn unser Urlaub ging an diesem Tag dem Ende entgegen. Als wir uns an dem Tag wie gewohnt dem Gelege näherten, ging der brütende Vogel vom Nest und begann sofort zu verleiten, das erste Mal übrigens. Jetzt bemerkten wir, dass es sich um das Weibchen handelte, welches sich bei unserem Eintreffen noch auf dem Gelege befand. Das Männchen hielt sich zu diesem Zeitpunkt in der Nähe auf. Kurzentschlossen wagten wir dem Versuch – meine Lebensgefährtin nahm vorsichtig die 3 Eier in ihre Hände und wartete. Das Männchen kam, schaute kurz auf die Eier und bewegte sich langsam auf die Hände, die nun das Gelege hielten. Seitdem das Weibchen das Nest verlassen hatte waren nicht einmal 4 Minuten vergangen und das Männchen ging wie gewohnt seiner Aufgabe nach, drehte die Eier noch einmal vorsichtig in die richtige Lage und kuschelte sich in seiner neuen Nestmulde für das weitere Brutgeschehen ein. Nun schauten sich Mornellregenpfeifer und Mensch an. Für den Regenpfeifer schien dieser enge Kontakt mit dem Menschen das Normalste auf der Welt zu sein und meine Freundin war erkennbar fassungslos über das was da gerade passiert. Ein bewegender Moment - die Sage vom Vogel in der Hand erfüllte sich für uns; dieses Gefühl sowie diese Erinnerung verlassen einen nie wieder und entwickelten sich bei uns zu einem der glücklichsten Momente in unserem Leben als naturverbundene Menschen. Immer wieder, wenn ich von diesen Erlebnissen berichte, richtet sich bei mir die Armbehaarung auf.

Nach nicht einmal 4 Minuten der Abwesenheit vom Nest entstand dieses Foto. Foto: Jörg Asmus

Als wir gingen, drehten wir uns noch ein letztes Mal nach dem brütenden Mornellregenpfeifer um. Wie es von der Natur vorgesehen ist, konnten wir ihn in seinem Habitat nicht mehr entdecken. So soll es sein!


Meine Bedenken
Mir ist durchaus bekannt, dass sich zahlreiche Naturfotografen Jahr für Jahr auf die Suche nach dem Mornellregenpfeifer begeben und so war ich lange Zeit unschlüssig, ob ich unsere Erlebnisse überhaupt in die Öffentlichkeit tragen sollte, denn wahrscheinlich ist der Mornellregenpfeifer als Brutvogel in Mitteleuropa aufgrund seines vertrauten Verhaltens, so gut wie ausgestorben. Auch die skandinavischen Bestände gehen nach wie vor immer weiter zurück.  

Die Gründe der derzeitigen Bestandsrückgänge liegen jedoch vornehmlich bei der Klimaveränderung, die sich inzwischen als potenzielle Bedrohung für den Mornellregenpfeifer darstellt, die wiederum vollständig abhängig sind von den ökologischen Bedingungen, die derzeit in Nord-Eurasien vorherrschen. Die Überweidung, die Nutzung geeigneter Brutgebiete für Freizeitaktivtäten und auch die Versauerung der Böden spielen in einigen geeigneten Lebensräumen ebenfalls eine nicht unwesentliche Rolle, so zum Beispiel in Großbritannien. Über die Populationsdynamik der Bestände Nordost-Sibiriens und Zentralasiens ist hingegen wenig bekannt. Laut Roter Liste der IUCN wird der weltweite Bestand des Mornellregenpfeifers zwar heute als „Least concern“ (nicht gefährdet) eingestuft, allerdings mit abnehmender Tendenz.

Nach reichlicher Überlegung ließ ich mich also doch dazu hinreißen, an dieser Stelle über das Verhalten dieses besonderen Vogels zu berichten. Ich hoffe natürlich in erster Linie, dass meine Erlebnisse dazu beitragen werden, die bei
den Menschen bereits vorhandene Naturverbundenheit weiter zu festigen und sie auch dazu geeignet sind auf die Besonderheit unserer Umwelt hinzuweisen. Mir entgegengebrachte Befürchtungen, die auf eventuelle Nachahmer verweisen, teile ich nicht in vollem Umfang. Meine Hoffnung, unter meinen Lesern auf ausschließlich verantwortungsvolle Menschen zu treffen, ist nach wie vor vorhanden. Und natürlich glaube ich auch ganz fest daran, dass Láhol sich auch weiterhin durch seine hervorragende Tarnung dem menschlichen Auge entziehen kann.

Sollten Sie aber eines Tages das Glück besitzen und Láhols Nest auf Ihren Weg durch die nordische Natur zu entdecken, dann erinnern Sie sich bitte an diesen Text und gehen bitte behutsam mit dem kleinen Vogel um. Sie kennen sein Verhalten und wissen nun auch, dass es einige Zeit dauern kann, bis der Mornellregenpfeifer dem Menschen vertraut. Haben Sie diese Zeit in genau diesem Augenblick nicht zur Verfügung, die es dafür braucht, dann lassen Sie Láhol lieber allein und freuen sich über das großartige Erlebnis diesem einzigartigen Vogel überhaupt begegnet zu sein.

Die Saga vom Vogel in der Hand“. Foto: Jörg Asmus

In der Hoffnung auf neue Erlebnisse
2020 (und auch die Jahre danach) werden wir wieder im Brutgebiet des Mornellregenpfeifers unterwegs sein. Wenn das Glück weiterhin auf unserer Seite ist, dann werden wir in Schweden auch in Zukunft auf unseren absoluten Lieblingsvogel treffen.

Nachtrag:
Am 11. Juli 2019 beobachtete ein befreundeter schwedischer Ornithologe „unseren“ Mornellregenpfeifer mit 3 Küken. Hoffentlich kommen im nächsten Jahr wieder alle gesund zurück nach Schweden.  


Jörg Asmus, Kalmar (Schweden)



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