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Wiederansiedlung des Waldrapps (Geronticus eremita) in Europa – eine über zwei Jahrzehnte andauernde Erfolgsgeschichte

Waldrapp. Foto: Jörg Asmus

Der Waldrapp (Geronticus eremita) ist vor allem in den letzten Jahren wieder zu einer bekannten Vogelart geworden. In vielen Zoos ist dieser Vogel zu bewundern, mitunter werden Waldrappe dort in größeren Gruppen gehalten und oft weisen Hinweisschilder den Zoobesucher darauf hin, dass für diese Vogelart ein Europäisches Erhaltungszuchtprojekt (EEP) existiert, mit dessen Hilfe, vor allem durch ein gezieltes Zuchtmanagement, für eine größtmögliche genetische Variabilität innerhalb des gesamten Zuchtbestandes gesorgt wird. Heute wird die Art von Zoobesuchern wegen ihres exotischen Aussehens und außergewöhnlichen Verhaltens bewundert, den meisten ist allerdings nicht bewusst, wie schlecht es noch vor einigen Jahrzehnten um den Bestand dieser Vögel in Europa bestellt war.

Aufgrund von Überlieferungen weiß man, dass die letzten europäischen Waldrappe bereits im Mittelalter verschwanden. Er war zu dieser Zeit ein begehrter Speisevogel und so führte die intensive Bejagung und das Ausnehmen der Nestlinge schon bald zur Ausrottung der europäischen Population. Der Schweizer Naturforscher Conrad Gessner (1516 – 1565) beschrieb den Waldrapp in seinem bekannten Vogelbuch als Corvus silvaticus und aufgrund seiner Beschreibung galt dieser Vogel für lange Zeit als eine Art Fabelwesen. Ende des 19. Jahrhunderts aber brachten Ornithologen Gessners vermeintlichen Phantasievogel in Verbindung mit einem im Nahen Osten und Nordafrika entdeckten Schopfibis, der später den heute gültigen wissenschaftlichen Namen Geronticus eremita erhielt. In Europa gab es den Waldrapp zu dieser Zeit aber schon lange nicht mehr. Ein letzter Hinweis für ein europäisches Waldrappvorkommen existiert aus der Zeit um 1630 aus Graz. Nachweise für Populationen dieser Vogelart gibt es auch aus den Überlieferungen aus dem Alten Ägypten. Man begründet diese Hinweise auf das Vorkommen der Waldrappe im Alten Ägypten mit der Verwendung dieser Vogelart als hieroglyphischen Zeichen für das Wort Akh. Nach altem Glauben der Ägypter konnten sich Tote nach deren Ankunft im Jenseits in mächtige und mysteriöse Wesen namens Akh verwandeln. Die ersten Hieroglyphen im Alten Ägypten zeichneten sich noch durch detailgetreue Darstellungen des Waldrapps aus, später wurden die Zeichen immer abstrakter. Aber auch diese Vergötterung im Alten Ägypten bewahrte die Freilandpopulation des Waldrapps nicht vor seinem Erlöschen, das dort bereits vor Jahrtausenden stattfand. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts sind die noch verbliebenden Waldrapp-Populationen im Mittleren Osten und Nordafrika ebenfalls sukzessive erloschen, so dass lediglich zwei kleine Kolonien an der marokkanischen Atlantikküste übrigblieben. Im Laufe dieser Entwicklungen wurde der Waldrapp zu einem der seltensten Vögel unserer Erde und erhielt ab 1994 den Status critically endangered in der Roten Liste der bedrohten Arten; die Art stand kurz vor dem Aussterben.

In Süddeutschland, Österreich, der Schweiz, Italien und Andalusien können die Vögel mit etwas Glück nun wieder in der Wildbahn beobachtet werden. Über die kostenlose App Animal Tracker, die vom Icarus-Team des Max-Planck-Instituts für Verhaltensbiologie bereitgestellt wird, können die aktuellen Aufenthaltsorte und weitere Informationen für alle besenderten Waldrappe abgerufen werden (https://www.icarus.mpg.de/4331/animal-tracker-app). Aber wie kam es dazu, dass diese Vögel inzwischen wieder etwas häufiger in Europa auftauchen?

Der Start einer Erfolgsgeschichte
Bereits in den 1930er Jahren kam es im Zoo Basel und dem Alpenzoo Innsbruck zu ersten erfolgreichen Nachzuchten bei den Waldrappen aus ehemaligen Brutkolonien im marokkanischen Atlasgebirge. Aus dieser Gründerpopulation ist eine vitale und stetig wachsende Zoopopulation entstanden, woraus sich schließlich eine zweite Chance für den Waldrapp ergab, wieder Teil der heimischen Fauna zu werden. Die erfolgreiche Vermehrung dieser Vögel war jedoch nur die eine Sache. Mit der Haltung im Freiflug und die damit verbundene Vorbereitung auf die Wiederansiedlung in zuvor von den Waldrappen bewohnten Gebieten, ergab sich eine weitere Herausforderung. Die Vögel mussten an Zugrouten gewöhnt werden, die mit der Ausrottung der Waldrappe in ihrer europäischen Heimat zunächst verlorengingen.

Wiederum war es der Alpenzoo Innsbruck, in dem erstmals Waldrappe von menschlichen Zieheltern aufgezogen und im Freiflug gehalten wurden. Ende der 1990er Jahre wurde an der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle Grünau in Oberösterreich eine erste freifliegende, sedentäre Waldrapp-Kolonie aufgebaut, für die man sich die im Alpenzoo gemachten Erfahrungen zunutze machte. Obwohl die Tiere über mehrere Generationen bereits ausschließlich in zoologischen Einrichtungen gehalten und vermehrt worden sind, zeigten diese Vögel dennoch eine ausgeprägte Zugmotivation. Anfänglich führte dies noch zu erheblichen Verlusten beim Aufbau der sedentären Kolonie. Aber aufgrund eines damals in den Kinos laufenden Hollywood-Films (Fly away home) entstand dann bald die Idee, die auf den Menschen geprägten Waldrappe mit Hilfe eines Ultraleichtflugzeuges die Migration auf einer festgelegten Zugroute zu lehren. Auf diese Weise sollte die Grundlage zur Wiederansiedlung einer selbständig überlebenden, migrierenden Population geschaffen werden. Dafür gründeten einige junge Wissenschaftler das Unternehmen Waldrappteam Concervation and Research (www.waldrappteam.at). Damals war über die Ökologie und das Verhalten der Vögel im Freiland insbesondere das Zugverhalten betreffend, kaum etwas bekannt. Die methodischen Ansätze für das Gesamtvorhaben waren demzufolge neu und innovativ, was viel Geduld und Durchhaltevermögen erforderte, bis schließlich die ersten Erfolge erzielt werden konnten.

Die menschengeführte Migration der Waldrappe wurde zur primären Methode um im Rahmen des Projektes Jungvögel aus Zoobeständen auszuwildern. Dazu werden Küken im Alter von nur wenigen Tagen aus den Nestern der Zookolonien genommen und in die Obhut von zwei menschlichen Zieheltern gegeben. Ausschließlich die Zieheltern haben Kontakt zu den Vögeln und verbringen den ganzen Tag mit ihnen. Die Elternprägung erfolgt auf diese Weise nur auf diese beiden Bezugspersonen und ist nach etwa zwei Wochen abgeschlossen. Diese durch die Prägung begründete soziale Bindung wird durch beständige Präsenz, Interaktion und Betreuung stabilisiert und intensiviert. So ist es möglich, die flüggen Jungvögel darauf zu trainieren zwei Fluggeräten zu folgen, in denen sich die beiden Zieheltern befinden.

Die menschengeführte Migration bietet weitere Vorteile. So zum Beispiel eine einzigartige Möglichkeit, um den Vogelflug zu erforschen. Der Formationsflug ist ein Schwerpunkt dieser Forschungsarbeit. Mit den Daten aus dem Waldrapp-Projekt konnte erstmals nachgewiesen werden, dass die Vögel während des Formationsfluges ihr Verhalten sehr präzise mit dem vorausfliegenden Vogel koordinieren, um Energie zu sparen. Es konnte auch nachgewiesen werden, dass die Waldrappe während der Formation ständig ihre Position wechseln, wodurch dann letztendlich jedes Individuum vom Formationsflug profitiert.

Im Jahr 2011, nach 10 Jahren Forschungsarbeit, überflog dann schließlich der erste Waldrapp selbständig die Alpen und kehrte auch wieder in sein Brutgebiet zurück. Bereits ein Jahr später wurden die ersten Küken in dem Brutgebiet flügge und sind ihren Artgenossen ohne menschliches Zutun das Überwinterungsgebiet gefolgt. Das war ein unglaublicher Erfolg und ein wichtiger Schritt für den weiteren Projektverlauf, mit dem Ziel dem Waldrapp, als migrierende Spezies, wieder Teil der europäischen Fauna werden zu lassen. Bei einem weiteren positiven Projektverlauf würde dies dann auch die erste erfolgreiche Wiederansiedlung einer Zugvogelart überhaupt sein und gleichzeitig ein Wegbereiter für zukünftige innovative Artenschutzinitiativen mit Zugvögeln. Den eigentlichen Beginn der Wiederansiedlung markierte nach vielen Jahren des Lernens und Probierens das Jahr 2014 mit dem Start eines sechsjährigen LIFE-Projektes. Im Jahr 2022 bestand die europäische Freilandpopulation dann bereits aus rund 200 Individuen, aufgeteilt auf vier Brutkolonien nördlich und südlich des Alpenhauptkammes. All diese Vögel ziehen von dort in ein Wintergebiet in der südlichen Toskana.

Zum überwiegenden Teil im Rahmen von 15 menschengeführten Migrationen wurden bis heute 394 Waldrappe aus Zookolonien wieder ausgewildert und der Anteil an in der freien Wildbahn geschlüpften und aufgewachsenen Waldrappen nimmt ebenfalls stetig zu. So sind bereits 250 Jungvögel in den Brutkolonien flügge geworden; im Jahr 2022 waren es allein 46 Tiere.

Im Rahmen einer weiteren LIFE-Förderung, in der wiederum das Waldrappteam mit der allgemeinen Projektleitung beauftragt wurde, wurde der Aufbau einer sich selbst erhaltenden, migrierenden Waldrapp-Population in Europa als primäres Ziel ausgerufen. Dafür sind allein mindestens 314 Individuen erforderlich, die in mindestens sieben Brutkolonien nördlich und südlich der Alpen aufgeteilt werden sollen.

Durch umfangreiche Begleitmaßnahmen sollen die anthropogen bedingten Verlustraten durch Stromtod an ungesicherten Mittelspannungsmasten und die illegale Jagd in Italien bald substantiell und nachhaltig vermindert werden. Die illegale Vogeljagd konnte über den Zeitraum des ersten LIFE-Projektes (2014-2019) zunächst als Verursacher für etwa ein Drittel der Verluste in Italien ermittelt werden. Obwohl die Abschusszahlen vor diesem Erfassungszeitraum noch wesentlich höher waren, müssen diese in naher Zukunft weiterhin deutlich reduziert werden. Der Stromtod ist bei den Waldrappen ein weiteres Problem. Ursächlich dafür sind für große Vögel wie den Waldrapp die noch ungesicherten Mittelspannungsmasten, die diese Vögel gern als Sitzplatz nutzen und in der weiteren Folge in den Stromkreis gelangen können. Etwa 45 Prozent der Verluste bei den Waldrappen sind darauf zurückzuführen. Eine Isolation der Stromleiter an den Masten kann derartige Unfälle bereits vollständig verhindern.

Andere Rückschläge

Es sind aber auch weitere Verluste bei dem ansonsten so erfolgreichen Waldrapp-Projekt zu verzeichnen. So wurde im Projektverlauf festgestellt, dass das Timing der Herbstmigration zunehmend variabel wird und die Abflüge in die Überwinterungsgebiete immer später erfolgen. Die hohen Temperaturen im Herbst führen zu diesen verspäteten Abflügen. Ende 2022 hatte dies drastische Auswirkungen, denn der überwiegende Teil der Individuen aus den drei Brutkolonien im nördlichen Alpenvorland waren nicht in der Lage die Berge trotz wiederholter Versuche zu überqueren. Die Wissenschaftler vermuten, dass die Vögel im Spätherbst nicht mehr die thermischen Bedingungen vorfinden, die sie benötigen, um die Alpenpässe in dieser Zeit zu überfliegen. Dies ist eine Folge des Klimawandels, woraus sich eines der größten Risiken für die erfolgreiche Wiederansiedlung des Waldrapps ergibt. Die zeitlichen Verschiebungen im Zugverhalten sind aber kein Spezifikum der Waldrappe, denn bei vielen anderen Zugvogelarten kommt es ebenfalls zu Verhaltensänderungen im Zusammenhang mit dem Klimawandel. Jedoch werden bei den Waldrappen die Konsequenzen des Klimawandels aufgrund der GPS-Besenderung von mehr als 80 Prozent der Individuen und des sich darauf ergebenden intensiven Monitorings besonders deutlich sichtbar. Somit steht das Waldrappteam nach zwanzigjährigem Bemühen, dieser Spezies wieder ein selbständiges Überleben in Europa zu ermöglichen, vor neuen Aufgaben und Herausforderungen.

Einzelne Unwetterereignisse führten ebenfalls zu Verlusten. Ende November 2022 sind über Nacht beispielsweise 27 Waldrappen im Zusammenhang mit dem Zyklon Denise in der südlichen Toskana primär infolge von Traumata verstorben. Das waren in den 20 Jahren des Wiederansiedlungsprojektes aber auch die mit Abstand größten Verluste aufgrund eines einzelnen Unwetterereignisses.

Um den Waldrappen trotz der sich schnell ändernden Umweltbedingungen ein nachhaltiges Überleben zu ermöglichen, arbeitet das Wissenschaftler-Team an Strategien. Hierbei spielt eine enge Kooperation mit dem Partnerprojekt in Andalusien eine Rolle, wo seit 20 Jahren mit gutem Erfolg eine sedentäre Waldrapp-Population aufgebaut wird. Obwohl die Reproduktionsrate dort mit im Schnitt 0,97 Küken pro Nest ziemlich gering ist, finden die Vögel dort ganzjährig geeignete Lebensbedingungen vor und reproduzieren bereits seit vielen Jahren. Eine zunehmende Trockenheit und länger anhaltende Hitze könnte die Nachzuchterfolge in dieser Region weiter drücken und sich zu einer Bedrohung für die Population entwickeln. Im Alpenvorland finden die Waldrappe im Gegensatz dazu während der Reproduktionszeit ein sehr gutes Nahrungsangebot vor und können im Schnitt 2,15 Jungvögel pro Nest aufziehen, mehr als in den meisten Zookolonien. Die Verknüpfung der beiden Projekte könnte für die Wiederansiedlung eine neue, gesamteuropäische Perspektive erschließen und für beide Populationen das Überleben in den herausfordernden Zeiten des Klimawandels gewährleisten.

Jörg Asmus, Kalmar (Schweden)



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