Waldrappe verirren sich nach Skandinavien
Über das Waldrapp-Projekt habe ich bereits berichtet. Die überaus erfolgreiche Initiative des Waldrappteams führte dazu, dass diese in Europa bereits ausgestorbene Art hier wieder angesiedelt werden konnte. Doch nicht nur das, den Projektmitarbeitern ist es sogar gelungen, in Zoos geborenen Waldrappen das Zugverhalten wieder anzutrainieren. Für einen der seltensten Vögel weltweit besteht nun wieder Hoffnung, dass sich der Gesamtbestand des Wildbestandes nach und nach erholt. Inzwischen begeben sich einzelne Waldrapp-Gruppen eigenständig auf ihren Zug in die Brut- bzw. Überwinterungsgebiete. Im Oktober verlassen die Waldrappe üblicherweise ihr Brutareal nördlich der Alpen und ziehen von dort aus in Richtung Süden. Mitunter kommt es im Zusammenhang mit diesen Zugbewegungen zu unvorhersehbaren Problemen. So waren zuletzt 2022 einige Waldrappe aus den Brutkolonien im nördlichen Alpenvorland nicht in der Lage die Alpen rechtzeitig in Richtung ihrer Überwinterungsgebiete zu überqueren. Vermutlich fanden die Vögel zu diesem Zeitpunkt nicht mehr die thermischen Bedingungen vor, die sie benötigen, um die Alpenpässe zu überfliegen.
Im Spätherbst 2023 ereignete sich ein Phänomen, mit dem die Experten vom Waldrappteam ebenfalls nicht gerechnet haben. Am Vormittag des 28.10.2023 begann eine größere Anzahl Waldrappen aus den Brutkolonien in Salzburg, Burghausen und Kuchl ihren Herbstzug. Diese Vögel wählten jedoch nicht den Weg in Richtung Süden, sondern in den Norden. Unter diesen Waldrappen befanden sich auch einige besenderte Vögel, so dass sich die Bewegungen von Einzeltieren aus der Gruppe zeitnah mitverfolgen ließen. 16 Jungvögel aus dem Jahr 2023 zogen zunächst gemeinsam mit 2 subadulten Waldrappen von Salzburg aus in Richtung Tschechien. Ein besenderter Jungvogel (Mallo) drehte bereits einen Tag später um und war am 02.11.2023 wieder bei seinen Artgenossen in Salzburg. Koda und Eugen, die beiden subadulten ebenfalls besenderten Waldrappe, flogen zunächst bis in die Nähe von Neunkirchen in der Oberpfalz und kehrten dort am 30.10.2023 schließlich auch wieder um.
Doch nicht nur diese gerade erwähnten 6 Waldrappen schlugen den Weg in Richtung Norden ein. Eine zweite Gruppe, zusammengesetzt aus 9 besenderten und 15 nicht besenderten Waldrappen, flog am 28.10.2023 in einem etwas gemäßigterem Tempo ebenfalls in Richtung Norden. Zunächst hielten sich diese Tiere noch einige Tage in Deutschland auf, in der Nähe von Wolfsburg. Am 03.11.2023 zogen sie dann aber ebenfalls weiter in Richtung Norden und erreichten am gleichen Tag Dänemark. Dort blieben sie dann einige Tage. Mit Stand 20.11.2023 halten sich von dieser großen Gruppe 7 besenderte Vögel wieder in Deutschland auf. Einer davon auf Sylt, ein weiterer in der Nähe von Salzwedel und 4 inzwischen wieder in der Nähe der bayrischen Ortschaft Regen. Zwei besenderte Exemplare sind immer noch in Dänemark, an verschiedenen Orten Jütlands.
Die Mitarbeiter vom Waldrappteam haben gehofft, dass die Jungvögel ihre Richtung ändern und zurückkehren zu ihrem Ausgangspunkt in Österreich bzw. Deutschland. Dieser Wunsch scheint zumindest teilweise in Erfüllung gegangen zu sein. Nun bleibt noch zu hoffen, dass auch der Rest diesem Beispiel folgt.
Eine eindeutige Erklärung, warum die jungen Waldrappen 2023 ausgerechnet in Richtung Norden zogen, haben die Wissenschaftler noch nicht gefunden. Auch die diesjährigen Jungvögel folgen ihrem angeborenen Zugtrieb, allerdings fehlen ihnen noch die Informationen über die Lage eines geeigneten Wintergebiets. Man vermutet zunächst, dass das ungünstige Verhältnis zwischen den diesjährigen Jungvögeln und den erfahreneren subadulten Waldrappen in der Gruppe dazu geführt hat, dass der Abflug in Richtung Norden durch die Jungvögel initiiert wurde. Offensichtlich zeigten die älteren Vögel bis dahin noch keine Migrationsbewegung, so dass sich der Trupp unabhängig von den zugerfahrenen Vögeln in Bewegung gesetzt hat. Ein ähnliches Verhalten kennen die Forscher bereits aus früheren Beobachtungen von zumeist sesshaften Populationen, in denen sich die Jungvögel selbständig bewegten. Im beschriebenen Fall schlossen sich die Subadulten zunächst den Jungvögeln an, bemerkten dann aber bald den Irrtum und kehrten schließlich zu ihrem Ausgangspunkt zurück.
Natürlich bedeuten derartige Neuigkeiten aus dem Waldrapp-Projekt einen Rückschlag. Die Befürworter des Projektes stellen sich nicht selten die Frage, ob man die vielleicht noch weiterhin im Norden verbleibenden Vögel nicht einfach einfangen und im Anschluss wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückbringen könne. Solange sich diese Individuen nicht in einem bedrohlich geschwächten Zustand befinden, ist eine solche Maßnahme allerdings wenig zielführend, denn es handelt sich hier um Waldrappe, die bisher ohne jegliche Prägung auf den Menschen aufgewachsen sind – also um Wildvögel. Sollten sich die Wetterbedingungen in Schweden und Dänemark in der nächsten Zeit ändern und der Boden über mehrere Tage gefroren sein, würden die Waldrappe keine Nahrung mehr finden. Dies wäre für einige Tiere dann das traurige Ende ihres Irrtums.
Jörg Asmus, Kalmar (Schweden)